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Paul Theroux: "Auf dem Schlangenpfad"
Diese Grenze ist eine Profitmaschine

Paul Theroux will es noch mal wissen, im Alter von 76 Jahren reist er durch Mexiko. "Auf dem Schlangenpfad" berichtet von einem Land in der Krise. Theroux trifft viele Migranten und er benennt all jene, die aus ihrem Leben Profit schlagen: Die großen Konzerne, Drogenschmuggler und Menschenhändler.

Von Eberhard Falcke | 27.11.2019
Portrait des Schriftstellers Paul Theroux und sein Roman „Auf dem Schlangenpfad"
Der amerikanische Autor Paul Theroux reist durch Mexiko (Buchcover Hoffmann & Campe Verlag, Autorenportrait © picture alliance Effigie Leemage)
Als Paul Theroux vor ein paar Jahren mit dem Alter zu hadern begann und auf den Gedanken verfiel, er könnte sich schon bald ähnlich ausgeschlossen fühlen, wie die Migranten, die man nicht ins US-amerikanische Leben hinein lassen wollte, entschied er, dass es gegen solche schrägen Grübeleien nur ein Mittel gab. Nämlich dort hin zu fahren, wo all diese Menschen herkamen, und sich damit zugleich zu beweisen, daß er es immer noch konnte: das Reisen und das Schreiben darüber. Also brach er mit seinen 76 Jahren auf gen Mexiko, mit dem Auto und dem Plan, das haltlose Geschwätz des amtierenden Präsidenten und seiner Gesinnungsgenossen über die Mexikaner in die Schranken zu weisen:
"Die gebetsmühlenartige Wiederholung von Vorurteilen waren Motiv genug für eine Reise, von der ich mir mehr Einblick in das fremde Land hinter dem hohen Zaun am Ende der Straße versprach."
Zerrissene Lebensläufe in einem zerissenen Land
2017 begab sich Theroux "Auf den Schlangenpfad", wie er sein Buch in Anspielung auf die realen und mythologischen Schlangen Mexikos genannt hat. Als Erstes steuerte er das Grenzland an, um ausführlich den verschiedenen Aspekten des Migrationsproblems nachzugehen. Fahren, Beobachten, mit vielen Menschen reden, das war seine Vorgehensweise. Immer wieder wechselte er die Seiten, um Vergleiche zu ziehen und erkannte: Die Grenze ist eine Profitmaschine für die internationalen Konzerne, die auf mexikanischer Seite Tageslöhne zwischen vier und siebeneinhalb Dollar zahlen, ebensogut wie für die Drogenkartelle, zu deren Geschäftsmodell auch Schmuggel, Erpressung und die Versklavung von Migranten gehört. In einer Hilfsstation hat sich Theroux die Geschichte von Menschen erzählen lassen, deren Grenzübertritt gescheitert ist:

"Ich hab in Chiapas auf dem Bau gearbeitet, Häuser renoviert", erzählte Leonardo. "In Chiapas verdienst du nichts. Wir sind über die Grenze zu dem Treffpunkt gegangen. Aber die Männer, die uns an der Grenze helfen sollten, sind nicht gekommen. Wir wollten uns verstecken, aber sie haben uns mit einem Motorrad gefunden."
In den zerrissenen Lebensläufen der Migranten spiegelt sich der Zustand des Landes. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen von 1994 hat Kritikern zufolge für Mexiko vor allem Nachteile gebracht: Große Verluste an Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft durch subventionierte Agrarexporte aus den USA und eine damit einhergehende Expansion der Drogenkriminalität. Durch den 2006 von der Regierung erklärten Drogenkrieg und das barbarische Wüten der Kartelle wurde Mexiko zu einem Land mit einer Mordstatistik, hinter der die Opferzahlen der einstigen lateinamerikanischen Militärdiktaturen weit zurückbleiben.
Das große Scheitern: Arbeitslosigkeit, Gewalt, Korruption
Nach seinen Erkundungen der Grenzregion durchquerte Theroux die umkämpften Territorien der Drogenkartelle zügig, hielt aber dennoch Augen und Ohren offen, um Schlaglichter auf Stationen wie Monterrey, San Luis Potosí oder das UNESCO-Welterbe San Miguel de Allende zu werfen. Sein Blick auf die Gegenden, die er durchquerte, reicht von urbanen Impressionen und Landschaftsschilderungen über soziale Erkundungen bis hin zu historischen Horizonten. Angekommen in Mexiko-Stadt ließ sich der Reisende von seinem Schriftstellerkollegen Juan Villoro über die Hintergründe der Ermordung von 43 Lehrerstudenten im Jahr 2014 aufklären:
"Die Studenten mussten um ihre Ausbildung kämpfen, und wenn das passiert, entsteht Widerstand; der Protest gegen soziale Ungerechtigkeit und der Kampf gegen die Armut gehören gewissermaßen zum Lehrstoff. Sie werden zu Sozialaktivisten, weil sie Studenten sind. Ihre Feinde sind die korrupten Politiker und die Drogenbarone, die oft genug beides zugleich sind."
Die Heilige des Todes
Der Aufenthalt in Mexiko-Stadt war vor allem durch einen Schriftsteller-Workshop geprägt, den Theroux dort abhielt, und durch gemeinsame Exkursionen ins anthropologische Museum, zum Haus von Frida Kahlo und zu einem Schrein der Santa Muerte, der Heiligen des Todes, einem typischen Phänomen des mexikanischen Volksglaubens. Anschließend ging es über ruppige Bergstraßen weiter nach Süden in Richtung des Bundesstaates Oaxaca. Dort beobachtete Theroux bei der zapotekischen Bevölkerung zwei eigentlich unvereinbare Tendenzen: Einerseits eine starke Bewahrung von Traditionen, andererseits den verbreiteten Wunsch, in den USA durch die Arbeit einiger Jahre eine Geldsumme anzusammeln, für die in diesen Bergdörfern ein ganzes Leben nicht ausreichen würde.
Graswurzelrevolution der Zapatisten
Die letzte Station der Reise war ein Besuch in einem der autonomen Territorien, die sich die revolutionäre Bauernmiliz der Zapatisten im südlichsten Bundesstaat Chiapas schaffen konnten:

"Sie hatten ihre Bewegung auf allem aufgebaut, was an den Traditionen der indigenen Völker human und unvergänglich war. Das hier war ein gelebtes Statement zu dem, was Mexiko brauchte, ein auch für die übrige Welt vorbildhaftes Beispiel dafür, wie man mit Widerstand zur Wahrung der Menschenrechte beitragen kann."
Paul Theroux ist mit seinem Mexiko-Buch ein weiteres großartiges Stück Reiseliteratur gelungen: lebendig, engagiert, reich an Perspektiven und glänzend geschrieben, mit einer eminent direkten Kraft der Vergegenwärtigung. Ein besserer Querschnitt über das mexikanische Leben und Leiden ist derzeit kaum denkbar.
Paul Theroux: "Auf dem Schlangenpfad. Als Grenzgänger in Mexiko"
Aus dem amerikanischen Englisch von Erica Ruetz
Hoffmann und Campe, Hamburg, 428 Seiten, 26 Euro